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Sandra und ihre Angst zu versagen.

Es kam eine junge Frau zu mir, weil sie morgens einfach nicht aus dem Bett kam. Sie habe schon alles Mögliche ausprobiert, sei bei Ärzten gewesen und so weiter, damit es besser wird; nichts habe geholfen.

 

Das Gefühl beschrieb Sandra (Name geändert) so, dass sie morgens, wenn der Wecker klingelt, im Kopf zwar klar sei, ihr Körper sich jedoch wie gelähmt anfühle und sie einfach nicht aufstehen könne: Eigentlich wolle sie aufstehen, aber irgendetwas halte sie davon ab. Als ob da eine zweite Stimme im Kopf sei, die sagt, sie solle doch liegen bleiben und die ihren Körper bewegungsunfähig macht.

Natürlich hatte die 21jährige dadurch enorme Probleme in ihrem Leben. Zum Beispiel war es ihr nach der Schule, die sie gerade so mit einem Abgangszeugnis beendet hatte, unmöglich, eine Ausbildung zu machen; geschweige denn einen Job über längere Zeit durchzuhalten. Vor allem von ihren Freunden und Bekannten bekam sie natürlich oft den Vorwurf zu hören, sie sei faul und wolle nicht arbeiten.

 

Als Kleinkind kam sie zunächst ins Kinderheim und kurz danach zu Pflegeeltern, bei denen sie bis heute lebt. Obwohl sie offiziell adoptiert wurde, benutzte Sandra immer wieder das Wort Pflegeeltern. Sie sprach nicht von Adoptiveltern.

(Anmerkung: Bei meiner Arbeit ist es ja auch nie Zufall, welche Worte die Klienten benutzen.)

Zu Beginn unserer Arbeit wurde bereits deutlich, dass Sandra panische Angst davor hatte, zu versagen. Gründe und Vorfälle zu diesem Thema hierfür fanden sich zuhauf in ihrer Schulzeit, aber auch im Kindesalter. Bei ihren Pflegeeltern und in der Familie hatte sie als Kind oft das Gefühl, versagt zu haben, Dinge nicht gut genug gemacht zu haben. Ihr Stiefbruder ging zum Gymnasium, machte Abitur und ging zur Uni. Bei ihr hingegen reichte es nur knapp für die Realschule, die sie ohne Abschluss mit einem Abgangszeugnis verließ. In ihrer Erinnerung wurde sie oft von ihrem Bruder ausgelacht und er bezeichnete sie früher als „dumm“.

Die Angst zu Versagen hatte sich tief in ihr Unterbewusstsein eingebrannt und begleitete sie ihr Leben lang. Wenn sie morgens im Bett liegen blieb, hatte sie diese Angst nicht. Ihrer Meinung nach konnte nichts passieren, wenn sie erst gar nichts macht. Wenn sie keine Ausbildung beginnt, kann sie auch durch keine Prüfung fallen. Für sie klang das in ihrer Wahrnehmung vollkommen logisch.

Ich fragte weiter, welche weiteren Vorteile sie von ihrem Symptom haben könnte. Ziemlich schnell erarbeiteten wir, dass sie auf diese Weise Pflegekind bleiben kann. Denn die Pflegeeltern taten bisher alles Erdenkliche, um ihr zu helfen. Sie vereinbarten Termine bei der Arbeitsagentur und bei Berufsberatern, besorgten ihr Praktika und ließen Gutachten anfertigen, in der Hoffnung, vielleicht eine organische Ursache für die morgendliche Problematik zu finden. Parallel umsorgten sie Sandra, wenn sie morgens nicht rauskam. Sie machten ihr das Frühstück und halfen ihr auch in anderen alltäglichen Belangen bestmöglich. Sie erfüllten nach wie vor für Sandra ihre Rolle der Pflegeeltern, was Sandra bei genauerem Betrachten als sehr bequem und angenehm empfand. Natürlich empfand sie das unbewusst so, bewusst wollte sie ihr Problem ja loswerden.

Nach unserem zweiten Termin, bei dem ich das Gefühl hatte, dass wir ihr Problem bereits gelöst haben, wollte sie dennoch einen dritten Termin vereinbaren. Zur Sicherheit.... Dieser war sechs Wochen später.

Da sie Tiere über alles liebt, hatte sie sich kurz nach unserem zweiten Gespräch einen 450€-Job auf einem Pferdehof gesucht und zudem einen Aushilfsjob in einem Hotel/Restaurant. Außerdem hatte sie sich informiert, wie sie die Mittlere Reife nebenberuflich nachholen kann.

 

Im Anschluss  an den Schulabschluss möchte sie eine Ausbildung beginnen. Am liebsten „was mit Tieren“. Bis dahin möchte sie sich mit den beiden Jobs über Wasser halten.

 

Die Betonung liegt hierbei darauf, dass sie sich das alles selbst überlegt und gesucht hat, ohne Hilfe ihrer Pflegeeltern. Im Gegenteil: Ihre Pflegemutter wollte sie zum Vorstellungsgespräch auf dem Reiterhof begleiten, was Sandra aber ablehnte. Zu dem Zeitpunkt, als sie zum letzten Gespräch zu mir kam, hatte sie beide Jobs bereits mehrere Wochen, kam morgens ohne Probleme aus dem Bett und die Freude am Leben stand ihr ins Gesicht geschrieben! Die Frau war von ihrem Wesen her kaum wiederzuerkennen! Ihre Angst zu versagen war wie weg geblasen.

 

Herzlichen Glückwunsch, liebe Sandra und ich wünsche dir alles Gute auf deinem weiteren Weg!